Literatur: Michael A. Meyer hat ein berührendes Buch über den Rabbiner Leo Baeck geschrieben, das Nürnberg-Bezug hat.

  • On 5 Heshvan 5782 – Oktober 11, 2021

Nürnberger Nachrichten vom 09.10.2021, Seite 6, Autor: Hans Böller


Das Cover von „Leo Baeck, Rabbiner in bedrängter Zeit“. (Foto: Verlag C.H. Beck)

 „Ich dachte, Sie wären tot“

In der Tür stand, im April 1945, Adolf Eichmann. „Sie leben noch, Herr Baeck?“, sagte der Organisator des Mordens, „ich dachte, Sie wären tot.“ „Herr Eichmann, Sie scheinen ein zukünftiges Ereignis vorauszusagen“, antwortete Leo Baeck. „Er legte seine Hand auf Eichmanns Arm, direkt unter der Schulter, schob ihn sanft zur Seite und ging“, so schildert Michael A. Meyer diese beinahe unwirklich anmutende Begegnung im Ghetto Theresienstadt. Leo Baeck überlebte die Zwischenstation auf dem Weg in den Tod.

„Rabbiner in bedrängter Zeit“ heißt der Untertitel der Biographie Leo Baecks, die der in Berlin geborene US-amerikanische Historiker Meyer nun vorgelegt hat – erklärtermaßen im Bemühen, „ein möglichst vielschichtiges Bild einer der bemerkenswertesten Persönlichkeiten der jüdischen Geschichte unserer Zeit zu zeichnen“. Es ist auf beeindruckende Weise gelungen.

Leo Baeck, geboren 1873 in Lissa in der damals zum Deutschen Reich gehörenden Provinz Posen, war eine Ikone des deutsch-jüdischen Lebens im 20. Jahrhundert, getragen von der Idee, wie er es einmal formulierte, „dass deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen werden“. Baeck, zu dessen Mentoren der Nürnberger Reformrabbiner Max Freudental gehörte, wuchs auf in einer Zeit blühender Hoffnungen. Sie trogen auf fürchterliche Weise, aber Baecks Haltung, sein Mut, auch sein Edelmut machten ihn zu „einem Leuchtturm im Tränenmeer der Verzweiflung“, wie es der österreichische Schriftsteller Hans Günter Adler, der Theresienstadt überlebte, ausdrückte. Ab 1912 war Baeck Rabbiner in Berlin, der mit Abstand größten jüdischen Gemeinde Deutschlands. Er diente der Armee als kaisertreuer Feldrabbiner im Ersten Weltkrieg; die Liebe zum Vaterland, hielt er fest, dürfe nicht das Vaterland über die Liebe stellen. Meyer erinnert an Mahatma Gandhi, der den in Deutschland verfolgten Juden den Rat gab, sich am selben Tag zur selben Stunde das Leben zu nehmen, um das Gewissen der Welt wachzurütteln – man wagte nicht, mit Baeck darüber zu reden, Baecks Achtung vor dem Leben, ein zentrales Motiv seines Handelns, hätte das nicht zugelassen. 

Leo Baeck, ein brillanter Denker und Lehrer, war spätestens ab 1933, gewählt zum Präsidenten der Reichsvertretung der deutschen Juden, die stärkste Stimme der Verfolgten; der Idee des gewaltsamen Widerstands setzte er ob dessen Aussichtslosigkeit einen geistigen Widerstand entgegen. Nach einer besonders perfiden Sonderausgabe des Hetzblatts „Der Stürmer“ in Nürnberg telegrafierte er 1934 an Adolf Hitler – was manche Zeitgenossen naiv fanden, nannte Baeck „feierlichen Protest“ zur „Wahrung unserer Ehre“. 

Aus dem politisch und religiös liberalen Gelehrten wurde ein Mann der Seelsorge und des praktischen Handelns, der die Emigration organisierte, solange es ging. Als 1939 aus der Reichsvertretung die unter Kontrolle des Reichssicherheitshauptamtes gestellte Reichsvereinigung werden musste, blieb Baeck trotz Verhaftungen standhaft und versuchte, so viele Leben wie möglich zu retten – oder, wenn es nicht möglich war, Lebenden wenigstens die Würde zu erhalten. 

Vor den Deportationen in die Todesfabriken betreuten jüdische Hilfsorganisationen die Menschen an den Sammelstellen in Berlin – um „zu Beginn eines grausamen Weges wenigstens einen kurzen Moment des Mitgefühls zu ermöglichen“, wie Meyer überlegt. Sein Wissen um die Vernichtungslager teilte Baeck nicht, die hohe Zahl an Suiziden beunruhigte ihn, offenbar hielt er es für falsch, den verbliebenen Juden in Erinnerung zu rufen, dass sie dazu bestimmt waren, zu sterben. Welche Dilemmata er durchlitt, lässt sich auch für den Biografen nur erahnen.

Leo Baeck selbst, umworben von Institutionen in England und den USA, schlug alle Gelegenheiten zur Emigration aus, er sah sich als den „letzten Juden“, der dieses Land verlassen oder in diesem Land sterben würde. Im Januar 1943 nach Theresienstadt deportiert, war er auch dort der „beharrliche Hirte seiner Herde“, wie Meyer schreibt. Seine Vorträge im Ghetto empfanden Zuhörer als Beiträge zum geistigen Überleben. 

Baeck hinterließ keine Tagebücher, keine Memoiren, das, schreibt Meyer, hätte seinem zurückhaltenden Naturell widersprochen. Er litt unter dem frühen Tod seiner Frau Natalie 1937, erlebte Einsamkeit und Verzweiflung, sah aber seine Bestimmung darin, die ihm „von Gott auferlegten Pflichten“ (Meyer) zu erfüllen. „Als Mensch war er das Spiegelbild seiner Ideale“, schreibt Meyer. 

Leo Baeck, dessen sechs Geschwister dem Terror zum Opfer fielen, starb 1956 in London, wohin sich seine Tochter hatte retten können. Theresienstadt hatte er erst Wochen nach der Befreiung des Ghettos verlassen, er wollte noch bei den gequälten Menschen bleiben. Zu ihnen gehörte die von ihm verehrte Kinderbuchautorin Else Dormitzer aus Nürnberg, ihr Mann Sigmund war im Ghetto ermordet worden, mit dem Ehepaar verband Baeck jahrzehntelang eine Freundschaft. Dem Ruf nach Rache an den Peinigern stellte er einen bemerkenswerten Satz entgegen. „Berührt sie nicht, ignoriert sie“, sagte Baeck: „Es ist nicht unsere Sache, ein Unrecht mit einem anderen Unrecht zu vergelten.“ 

Info: Michael A. Meyer, „Leo Baeck – Rabbiner in bedrängter Zeit“. Beck, 364 S., 32 Euro. 


Anm.: Dieser Artikel erschien am 09.10.2021 in den Nürnberger Nachrichten. Hier veröffentlicht unter Genehmigung von Hans Böller.
Quelle: https://epaper.nn.de/titles/nnnurnbergernachrichten/12207/publications/2707/articles/1460581/6/1